Das Drama von Aleppo
Ist Aleppo, die Stadt, die erstmals Ende des 19. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung bekundet ist, eine sterbende Stadt? Die Waffenruhe von ein paar Tagen, zum Herbeischaffen humanitärer Hilfen, hat nicht zu einem Exodus-Versuch geführt. Ganze 8 Verletzte wurden aus Aleppo evakuiert. Der Bombenterror hat daran nichts geändert: die Einwohner wollen in Aleppo bleiben; sie haben auch nur wenige Alternativen seit die Straße von Castello, die nach der Türkei führt, am 17. Juli von Regierungstruppen abgeschnitten wurde. Bestes Beispiel für die Widerstandskraft ist die Aktion der unbewaffneten Weißhelme, die die dezimierten Rettungskräfte und die fehlenden medizinischen Dienste ersetzen.
Das gezielte Auslöschen der medizinischen Dienste
Die Armee des Regimes rückt von Süden her zu den Positionen der Fatah Al-Cham-Front (früher el-Nosra, die mit Al-Qaida alliiert war). Russland will ganz Aleppo von den Terroristen säubern, meint damit aber nicht nur die Fatah Al-Cham-Gruppe, sondern die Vermischung aller Oppositionen zu dem mörderischen Regime von Bachar al Assad. Die meisten Viertel von Aleppo werden aber von den Kämpfern der freien syrischen Armee kontrolliert, die vom Westen de facto fallen gelassen wurden, seit der Islamische Staat das ganze Augenmerk der Strategen gewonnen hat. Der IS ist in Aleppo nicht vertreten.
Die Regierungskräfte und die russische Luftwaffe zielen vorrangig auf Spitäler und Krankentransporte. In Aleppo-Ost werden Krankenwagen längst nicht mehr als solche gekennzeichnet, da sie sonst als Zielscheibe dienen. Ein Arzt aus Aleppo, Tammam Loudami, der im August als einer der letzten aus der Stadt entkommen konnte und der den Kontakt aufrecht erhalten kann, berichtete am 18. Oktober vor der französischen Nationalversammlung, dass der letzte ausgebildete Chirurg, der noch tätig war, an beiden Händen verletzt ist. Das Spital des Sakhourviertels wurde in vierzehn Tagen von 11 Raketen getroffen. Die letzte davon bewirkte, dass es nun nicht mehr funktionsfähig ist. Von den beiden unterirdischen Notspitälern, bleibt nur mehr eins übrig. Es war bereits berichtet worden, dass die Luftwaffe des Regimes oder Russlands neue Geschosse einsetzt, die sich tief in den Boden einbohren können. Der Terror gegen die medizinischen Einrichtungen kennt seit dem Beginn der Blockade am 17. Juli keine Grenzen mehr; sie wurden seither 46 mal bombardiert.
Seit die Weißhelme Besuche in Washington und Paris gemacht haben, um die Situation und ihre eigene unbewaffnete Tätigkeit bekannt zu machen, wurden auch ihre Zentren und Fahrzeuge verstärkt angezielt. Die meisten der 147 Weißhelme, die seit der Gründung der zivilen Verteidigung umgekommen sind, sind es durch einen Nachfolgeangriff, nachdem sie, nach einer ersten Explosion, dabei waren, Verletzte aus dem Schutt zu bergen. Die pure Barbarei, das qualifizierte Kriegsverbrechen!
Der Westen produziert den djihadistischen Terrorismus
Es begann damit, dass die Amerikaner, nach ihrem gewonnenen Krieg im Irak eine ethnisch geprägte Regierung (Al Maliki) einsetzten, die die sunnitischen Bevölkerungsteile verunsicherte, abstieß. Diese Politik war die Geburtshelferin von Daesch im Irak, der Beziehungen zu breiten sunnitischen Bevölkerungsteilen aufbauen konnte. Wie anders könnte der rasche Vormarsch des Islamischen Staates erklärt werden – die große Stadt Mossul war von ein paar hundert Dschihadisten eingenommen worden – wenn nicht durch die abwartende Haltung der sunnitischen Bevölkerung, die der schiitisch geführten offiziellen irakischen Armee nicht traute und natürlich auch durch die Desorganisation und Korruption dieser Armee.
Der Westen hat es zugelassen, dass das Regime von Assad, das vor 2 Jahren fast am Boden lag, sich mit Hilfe der russischen Bomber wieder etwas aufbauen konnte und nun die Strategie verfolgt, das Kernland Syriens, die zentrale Ebene und die Küste wieder zu beherrschen. Die anfängliche Unterstützung der freien syrischen Armee, die noch am engsten mit den freiheitlichen Zielen des großen Aufstands von 2011 verbunden bleibt, wurde von Ländern wie Frankreich ersetzt durch den Einsatz eines Flugzeugträgers, von Mirages und Raffales gegen Daesch. Auch in linken Kreisen wurde die Standhaftigkeit der demokratischen Rebellion in Frage gestellt, weil die Grenzen zu den Dschihadisten nicht mehr deutlich genug waren. Am Beispiel von Aleppo zeigt sich jetzt, dass die verschiedenen Kräfte, die gegen das barbarische Assadregime, mit seinen zehntausenden politischen Gefangenen, seiner Folter, seinen Entführungen kämpfen, es nun einmal Seite an Seite, oder besser, Viertel an Viertel tun und es unweigerlich Querverbindungen gibt.
Der selektive „Antiterrorismus“ verhindert jeden politischen Ausweg
Das Assadregime ist zehn mal terroristischer als Daesch, wenn man auf makabre Weise die Anzahl der Opfer vergleichend auflistet. Alle ausländischen Mächte bekämpfen nun selektiv die Djihadisten. Die USA und Frankreich verstehen darunter Daesch, die Türkei meint die Kurden, Russland kämpft (mit freundlicher Unterstützung des Iran) gegen jene, die gegen Assad aufbegehren, ob djihadistisch, ob demokratische Opposition oder Weißhelme, eben alle. Die syrische Bevölkerung verblutet. Indem man die strategische Priorität vom Sturz des Assadregimes auf die Verdrängung von Daesch legte, näherte man sich indirekt dem Lager des Diktators. In diese Bresche ist Putin gesprungen, um sich geopolitische Vorteile auch in Bezug auf den Iran zu verschaffen.
Die dramatische Situation der Bevölkerung von Aleppo und von ganz Syrien kann aber ihrerseits wieder zu einer islamistischen Orientierung eines Teils der Jugend führen, wenn diese zum Schluss kommt, dass die Bevölkerung gegen den Tyrannen und seine Helfer allein gelassen wird. 2,7 Millionen Syrer haben sich allein in die Türkei abgesetzt. Längst nicht die Mehrheit wohnt in den Lagern, sondern hat sich auf die Städte verteilt. Hunderttausende von Kindern und Jugendlichen können sich nicht in das türkische Schulsystem einfügen, das auf den Ansturm auch nicht vorbereitet ist. Viele bleiben der Schule ganz fern und verlieren jegliche Berufsperspektive. Da trifft ein Satz des französischen Politologen des CNRS, François Burgat, zu: „Une victoire seulement militaire sur Daech ne fera que disséminer dans l’espace, et reporter dans le temps, les problèmes qui ont conduit à son émergence.“ Etwa: Indem man nur einen militärischen Sieg über Daesch erreicht, verbreitet man in Raum und Zeit die Probleme, die zu dessen Entstehung geführt hatten.
Mich stört die Zimperlichkeit, mit der in der europäischen Linken die Unterstützung der freien syrischen Armee behandelt wird. Die großartige Aktion der Weißhelme von Aleppo verdient breitesten Respekt und Solidarität.