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Das japanische Syndrom und Europa

Die japanische Wirtschaft stagniert und ist seit 15 Jahren deflationär. Seit dem 2. Trimester 2014 ist sie trotz „Abenomics“ in der Rezession. Abenomics ist der Name, den man der Wirtschaftspolitik des liberalen Premiers Shinzo Abe in Anspielung an die vergangenen „Reaganomics“ des ehemaligen amerikanischen Präsidenten gab. Inhaltlich ist es wohl ebenfalls eine liberale Politik aber mit anderen Akzenten. Vor allem sind die Akzente anders als es der Mainstream der liberalen Wirtschaftspolitik Europas vorschreiben würde.

Um der nicht enden wollenden Stagnation und Deflation ein Ende zu bereiten, setzte Abe auf den schwachen Yen, auf viel Geld Drucken und massiv Geld in die Wirtschaft Pumpen. Er fordert Lohnerhöhungen in der Wirtschaft, um die Binnennachfrage zu fördern. Die Zentralbank kaufte jährlich bis zu 572 Millionen € (in Yen natürlich) Staatsanleihen auf und erhöhte die Geldbasis um 16% im Jahr. Das alles bei einer Staatsverschuldung von mehr als 230% des BIP. Die Arbeitslosigkeit liegt momentan bei 2,5%.

Diese Ratio lässt sich zum Teil durch die regressive Demographie Japans erklären. Strukturpolitische Maßnahmen betreffen die Arbeitsorganisation und die angestrebte Erhöhung des Beschäftigungsrate vor allem der Frauen. Abe verfolgt außerdem eine reaktionäre Linie, die den verfassungsmäßigen Pazifismus unterhöhlen und private Polizeikräfte stärken soll.

„Abe tut, was viele Ökonomen für die USA und Europa fordern“

In einem Beitrag von April 2013 feiert Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz die Abenomics geradezu überschwänglich: „Abe tut, was viele Ökonomen (darunter auch ich) für die USA und Europa fordern: er setzt ein umfassendes, geld-, fiskal- und strukturpolitische Strategien beinhaltendes Programm um.“ Und weiter: “Falls das umfassende Programm, das Abe vorgelegt hat, gut umgesetzt wird, ist die wachsende Zuversicht dieser Tage begründet.

Tatsächlich könnte Japan zu einem der seltenen Hoffnungsstrahlen in der ansonsten düsteren Landschaft der hochentwickelten Länder werden.“ Nebenbei bemerkt, beabsichtigt Abe die Besteuerung der Unternehmen, die die höchste der großen Wirtschaftsmächte ist, auf 25% zu senken und ist dabei, die Mehrwertsteuer drastisch anzuheben.

Da haben wir es nun! Aus der Sicht „jener Tage“ gab es tatsächlich – trotz Fukushima – ein kleines Wachstum, das jetzt wieder zusammengebrochen ist. Im deutschen Handelsblatt wird gejubelt unter dem Motto: Die „Abenomics“ sind gescheitert, die „Angelanomics“ sind doch das Richtige. Und Junckers Vorschlag eines Investitionsprogramms der EU von 300 Milliarden, will man das auch kippen?

Die Diskussion wird in der nächsten Zeit sicher durch die derzeitigen schlechten Wirtschaftszahlen Japans angefeuert werden. Das japanische Deflationssyndrom hat Europa bereits erreicht. Die Austeritätspolitik hat unseren Kontinent in die Sackgasse geführt. Doch die kapitalistische Alternative, die in Japan (teilweise auch in den USA) praktiziert wird, haut auch nicht hin.

Japan ist nicht Alternative

Damit soll nicht gesagt sein, dass die Kritik der dogmatischen Maastrichter Ausrichtung der EU, des ausschließlich auf Währungsstabilität ausgerichteten Handlungsspielraum der EZB, der millionenfachen Arbeitslosigkeit hinfällig wäre. Vielmehr muss das System viel weiter hinterfragt werden als es nur von Leuten wie Stiglitz getan wird.

Es genügt einfach nicht, die von Deutschland dominierte austeritäre Ausrichtung der EU zu kritisieren, die Allmacht der Banken, die keine Kredite an die Betriebe geben, die Steueroptimierung der Betriebe, die eine normale Eigenschaft im Kapitalismus ist. Es genügt auch nicht, wachstumsfördernde Maßnahmen zu fördern, denn das Wachstum, das systemintern möglich wäre, ist grundsätzlich in Frage zu stellen und es gäbe keine Garantie, dass Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau abnehmen würde.

In welcher Phase befindet sich der Kapitalismus überhaupt?

Das wäre die Frage, die zu beantworten ist. Der Kapitalismus der alten dominierenden Wirtschaftstriade – USA, Europa, Japan – kommt aus der langen depressiven Welle nicht heraus. Der kleine Wirtschaftszyklus, bestimmt durch die Lebensdauer des fixen Kapitals, bestimmt immer noch konjunkturelle Schwankungen nach oben und nach unten. Die Produktivitätsgewinne durch die neuen Technologien haben immer wieder zu Blasen geführt, die dann auch geplatzt sind.

Eine Konstante seit der neoliberalen Wende der 80er Jahre ist der Verfall des Anteils der Löhne am weltweiten Einkommen: zwischen 1980 und 2010 sank ihr Anteil von etwa drei Viertel auf weniger als zwei Drittel des sozialen Einkommens.

Der Gewinn an Produktivität durch Internet und abgeleitete Technologien, ohne entsprechende Kaufkraftsteigerung, ist nicht vergleichbar mit historischen technologischen Schüben, wie die Dampfkraft, die Elektrifizierung oder die Mechanisierung der Haushalte und das Automobil. Der Neoliberalismus hat in den alten Industrieländern die Profitrate wieder hergestellt, nicht aber die Akkumulationsrate (die Investitionen).

Die langen Wellen

Es ist überhaupt grundsätzlich in Frage zu stellen, dass technologische Revolutionen allein den Übergang von einer langen depressiven zu einer langen expansiven Welle bestimmen, wie Kondratieff und Schumpeter sie erklärten. (Die langen Wellen von etwa 25-30 Jahren sind im Kapitalismus seit etwa 200 Jahren nachweisbar.) Ernest Mandel erklärte im Gegensatz, dass dieser Übergang eher von Änderungen in den sozialen Kräfteverhältnissen und Umverteilungen bestimmt wird.

Laut Mandel ist der Übergang von einer expansiven zu einer regressiven langen Welle endogen zu erklären, also aus der inneren Logik des Systems. Der Übergang einer regressiven zu einer erneut expansiven Phase ist exogen zu erklären, nicht automatisch nach einer gewissen Zeitspanne eintretend, sondern durch eine neue produktive Ordnung zu erklären. Jedenfalls ist heute nicht ersichtlich, wie eine Umkehr der wirtschaftlichen Dynamik in der alten Triade erreicht würde. Die weitere Liberalisierung, die überall auf dem Wunschzettel der Machthaber steht, blockiert jedenfalls die Entwicklung… auch aus kapitalistischer Sicht.

Neue Machtverhältnisse

In Frage zu stellen ist auch eine alte Sicht der wirtschaftlichen Machtverhältnisse in der Welt: „Die reichen Länder exportieren Kapital und importieren Rohstoffe aus den armen Ländern mit deren Transformation sie Mehrwerte schaffen.“ Heute importieren die USA Kapital und die industrielle Aktivität verlagert sich in die Schwellenländer. (Es ist aber wohl falsch die Schwellenländer als eine einheitliche Kategorie zu betrachten, es ist wohl eher eine Addition von Ländern mit unterschiedlichen Charakteristiken – siehe Brasilien und Russland in den BRIC).

Wahrscheinlich teilen sich die langen Wellenbewegungen auf unterschiedliche und widersprüchliche Bewegungen in der alten Welt und den sogenannten Schwellenländern auf. Durchwegs sind die Schwellenländer in einer langen, aufsteigenden Welle, und die alten Wirtschaftskolosse kommen aus der langen, absteigenden Welle nicht heraus.

Die Märkte und die Kapitalkonzentrationen überschneiden sich längst nicht mehr mit den Nationalstaaten. Die Globalisierung ist kein Modewort, sondern Realität. Sie schließt die Konkurrenz aber nicht aus und schließt die dringend notwendige Konzertierung zu den Schicksalsfragen der Menschheit wie die Endlichkeit der Rohstoffe, die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre, die Notwendigkeit der Energiewende nicht ein.

Die Schicksalsfragen

Die Schicksalsfragen resümieren sich eigentlich auf den Widerspruch zwischen der Notwendigkeit globaler Lösungen und der Konkurrenz der verschiedenen Pole der Kapitalkonzentrationen, die alle auf ein Wachstum bedacht sind, das nicht auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen bedacht ist sondern auf die Gewinnmaximierung auf Kosten dieser Lebensbedingungen.

Das durchschnittlich – im Verhältnis zur Brutalität der sozialen Gegenreformen – unterentwickelten sozialen Bewegungen im „Westen“ bedeuten ja nicht, dass die Regime an Glaubwürdigkeit gewonnen hätten. Das Gegenteil ist der Fall: 25 Jahre nach dem Ende des „real existierenden“ bürokratischen Sozialismus und der Rechthaberei der Sieger ist die Legitimität des Systems im Keller angekommen.

Die irrationale Flucht nach vorne des Kapitalismus

Japan wirft seine Atomreaktoren wieder an, die USA verlängern das Zeitalter der hemmungslosen Ölförderung durch das totale Frecking, Europa bereitet eine noch ausgebaute Qualität des kontinentalen Sozialabbaus durch TTIP vor. Sogar das kleine Luxemburg mischt tüchtig mit die Kredibilität des Systems durch „luxleaks“ gründlich zu erschüttern. Alles geht in die falsche Richtung und Alles muss anders werden.

Der westliche Kapitalismus befindet sich in einer systemischen Krise und es scheint als wolle er sich in einer irrationalen Flucht nach vorn über die Runden retten. Doch was kommt nach den Runden?

Es geht nicht, eine neue expansive Phase zu erwünschen, die dann wieder eine bessere Verteilung des Reichtums erlauben würde. Diese Expansion würde den Keim der Selbstzerstörung in sich tragen. Es ist nicht mehr erlaubt, die Kämpfe gegen dieses System in eine nebelige Grauzone zwischen Produktivismus, unmöglichem Keynesianismus und grünem Kapitalismus einzubetten.

Siehe auch: „La théorie des ondes longues et la crise du capitalisme contemporain“ – Michel Husson, juin 2014