Eine Saga von Revolution und Reaktion
2009, ein halbes Jahr nachdem das Land von einer großen Finanz- und Wirtschaftskrise erfasst wurde, wurde in Island die konservativ-sozialdemokratische Regierung nach massiven Protesten der Bevölkerung gestürzt, woraufhin eine provisorische linke Minderheitsregierung gebildet wurde, die sich aus der sozialdemokratischen Allianz und der Links-Grünen Bewegung zusammensetzte. Diese wurde wenig später bei den Parlamentswahlen mit einer deutlichen Mehrheit belohnt – es war die erste isländische Linksregierung ohne Beteiligung der agrarliberalen Fortschrittspartei. Dementsprechend hoch waren natürlich auch die Erwartungen – und nicht alle wurden erfüllt.
Trotz einiger Defizite gelang es der neuen Linksregierung, die Wirtschaftskrise ohne weitreichende Sparprogramme zu meistern; stattdessen wurde u.a. eine Vermögenssteuer eingeführt, die Banken wurden unter staatliche Aufsicht gestellt und reguliert und Landsbanki sogar in staatliches Eigentum überführt. Zugleich wurde privaten Haushalten ein Großteil der Schulden erlassen und der frühere konservative Premierminister musste sich vor einem isländischen Sondergericht wegen „politischer Fahrlässigkeit“ verantworten. Zwar wurden bei diesem Prozess keine Strafen erlassen, dennoch hatte er einen großen symbolischen Wert. Gegen die Bankenchefs wurden ebenfalls Strafverfahren eingeleitet.
„Island ist ein freier und souveräner Staat, dessen Grundpfeiler Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Menschenrechte sind.“
Die größte Errungenschaft der Linksregierung war aber die angestrebte Verfassungsreform. Die isländische Verfassung basiert immer noch auf der dänischen, und dies obwohl Island seit 1944 eine unabhängige Republik ist. Dies sollte sich nun endlich ändern – und um dem demokratischen Anspruch einer Republik gerecht zu werden, sollte das Volk nicht nur an der Diskussion über die Verfassung beteiligt werden, sondern an der Formulierung und Ratifizierung der Verfassung selbst. So wurde von der wahlberechtigten Bevölkerung ein 25-köpfiger Verfassungsrat gewählt, der unabhängig war von Parteipolitik und von den politischen Institutionen. Dieser Verfassungsrat erhielt über soziale Medien und Netzwerke, E-Mail und SMS direktes Feedback von der Bevölkerung und erarbeitete einen Verfassungsentwurf, der unglaublich fortschrittliche Züge trug.
Der Verfassungsentwurf enthielt, im Gegensatz zur alten Verfassung, erstmals eine Präambel, die diese Fortschrittlichkeit schon andeutet:
„Island ist ein freier und souveräner Staat, dessen Grundpfeiler Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Menschenrechte sind. Die Regierung soll danach streben, die Wohlfahrt der Einwohner des Landes zu stärken, ihre Kultur zu fördern und die Lebensvielfalt der Menschen, des Landes und seiner Biosphäre zu respektieren.“ Damit bekennt sich der Verfassungsentwurf bereits eingangs zu vielfältigen Lebensentwürfen, aber auch zum Umweltschutz. Dies geht aber noch weiter; im Entwurf wird auch explizit erläutert, dass die natürlichen Ressourcen, inklusive des Meeres und des Meeresbodens, öffentliches Eigentum sind und als solche nicht an die Privatwirtschaft verkauft oder auf unbestimmte Zeit verliehen werden dürfen. Aber auch soziale Rechte werden erstmals formuliert; ein Recht auf Bildung, auf angemessene medizinische Versorgung, soziale Sicherheit und öffentliche Hilfe im Falle von Armut oder Behinderung. Ebenso werden demokratische Prozeduren erweitert, sodass es etwa möglich ist, von der Regierung bindende Volksentscheide zu fordern.
2013 aber wurde die Linksregierung abgewählt – und die Verfassungsreform ist gescheitert, obwohl sich die Bevölkerung in einem Referendum mit überwältigender Mehrheit für den vorgelegten Verfassungsentwurf ausgesprochen hat. Dies weil Referenda in Island generell nicht bindend sind. Also bedurfte es noch der Zustimmung des Parlaments; da es derzeit aber noch nicht mal mehr eine absolute linke Mehrheit gibt und es einer Zwei-Drittel-Mehrheit bedarf, um die Verfassung zu ändern, kann die neue Regierung den Vorstoß der Linken und Sozialdemokraten problemlos blockieren. Bereits während des Verfassungsgebungsprozesses versuchte besonders die konservative Unabhängigkeitspartei ununterbrochen, die neue Verfassung zu sabotieren.
Nun ist die neue Verfassung Geschichte. Damit wurde die demokratische Entscheidung von der konservativen Elite schlicht übergangen. Doch nicht nur das: Die neue konservativ-liberale Regierung, eine Regierung der Krisenverursacher, konnte nur mit Hilfe eines perfiden und verlogenen Wahlkampfs überhaupt an die Macht kommen. Die Fortschrittspartei, die sonst in EU-Fragen einen eher opportunistischen Standpunkt vertritt, entdeckte kurz vor den Wahlen auf einmal ihre entschiedene Ablehnung einer möglichen EU-Mitgliedschaft. Auch die Konservativen spielten diese Karte im Wahlkampf, versprachen den Wählern aber auch, den Sozialstaat auszubauen und auf keinen Fall ein rigides Sparprogramm zu Ungunsten der Mehrheitsbevölkerung durchzusetzen.
Zurück zur Vetternwirtschaft…
Das Einzige was heute davon bleibt, ist die Ablehnung der EU-Mitgliedschaft. Tatsächlich ist die derzeitige Regierung in erster Linie eine Regierung der Vetternwirtschaft. So soll die Vermögenssteuer, die besonders die regierenden Minister derzeit schwer belastet, da sie großes Vermögen angehäuft haben, abgeschafft werden und die Fischereigebühren stark herabsetzen wollen. Gegen Letzteres gab es bereits Proteste und eine Unterschriftensammlung, die bereits von 10% der wahlberechtigten Bevölkerung unterschrieben wurde. Von der Herabsetzung der Gebühren profitieren zumeist wohlhabende Familien, während dem Staat zugleich einige Milliarden Kronen durch die Lappen gehen.
Aber auch die bereits einsetzenden Kürzungen in den Bereichen der sozialen Sicherheit und der Gesundheit, ebenso wie die erneute Deregulierung der Wirtschaft und die Privatisierung öffentlichen Eigentums sind Resultat der konservativen Politik der neuen Regierung. Damit wird der skandinavische Sozialstaat endgültig demontiert, nachdem er bereits in den 80er und 90er Jahren durch die Konservativen massiv angegriffen wurde.
Man merkt aber auch, dass die Isländer sich dies nicht gefallen lassen – denn sie wollen weiter in einem Land leben, wo der Unterschied zwischen Arm und Reich niedrig ist und sich die Menschen auf Augenhöhe begegnen können. Dem steht derzeit die Arroganz der Unabhängigkeitspartei entgegen, die – ähnlich der CSV in Luxemburg – ihre konservativen Wurzeln im Staat geschlagen hat und nicht wahrhaben will, dass sie nicht immer an der Macht bleiben kann.
Es wäre aber nicht das erste Mal, dass die demokratische Kultur der isländischen Gesellschaft diesem Gehabe vorzeitig ein Ende setzt – und so bleibt es abzuwarten, ob die konservativ-liberale Regierung, deren Zustimmungswerte in Umfragen rapide auf unter 50% gefallen sind, die Legislaturperiode übersteht oder durch Massenproteste gestürzt wird. Vielleicht haben dann auch der Sozialstaat und der Verfassungsentwurf wieder eine Chance.