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Krise und Notwendigkeit von Parteien und Kameraden

Partei oder Bewegung? Kameraden oder Alliierte? Klassenkampf oder Konvergenz der Kämpfe (convergence des luttes)? Seit Jahrzehnten wird die Partei als Institution grundlegend in Frage gestellt. Sie sei nicht nur zu unflexibel, sondern beharre zudem auf überholten Vorstellungen von Identität und Gemeinschaft.  

 

Was ist das schon, der Arbeiter? Die glorifizierende Verallgemeinerung einer weißen und männlichen Situation im Kapitalismus, die – um nur eine der vielen Kritiken zu erwähnen – unentlohnte aber keineswegs minder entmenschlichende Ausbeutung wie Haus- und Pflegearbeit oder (post-)koloniale Zwangsarbeit nicht erfasse. Zudem bedeute der Anstieg des Anteils von Dienstleistungen in westlichen Volkswirtschaften, dass die Arbeiterschaft nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung ausmache und sich nur mit ihren Stimmen keine Wahlen mehr gewinnen läsen. Eher wird heutzutage die Arbeiterschaft als eine untere Mittelschicht mit rechts-nationalistischen Tendenzen dargestellt, denn als Einheit jener, die nichts zu verlieren haben als ihre Ketten. Diese Zuschreibung scheint Migrierten und Geflüchteten, Frauen und anderen nicht weiß-männlichen „Minderheiten“ vorbehalten, deren revolutionäre Veranlagung bisweilen ebenso romantisch verklärt wird, wie die Prekarisierung der Arbeiterschaft ignoriert wird.

 

Neue Begriffe: Alliierte statt Kameraden

 

Im Zuge dieser veränderten Wahrnehmung von Begriffen wie Arbeiter und Klasse, und in Folge der feministischen, post-kolonialen und post-materialistischen (z.B. Naturschutz) Bewegungen  der 1960er und 70er Jahre, veränderten sich auch das Verständnis des Kameraden und des Klassenkampfes. Weg von der Einheit der Unterdrückten (Klasse), der Solidarität unter ihnen (Genossen, Kumpel, Kameraden), sowie deren Widerstand (Klassenkampf) gegen die Unterdrücker (das Kapital), hat sich linkes Denken hin entwickelt zu Begriffen wie Alliierte (statt Kameraden), Multitude (statt Klasse), convergence des luttes (statt Klassenkampf), Diskurs (statt dialektischer Materialismus) und Hegemonie (statt Macht).

 

Neue Strategie: Mehr Spontaneität

 

Diese Neubestimmung linker Grundbegriffe veränderte auch linke Strategie. Statt bereits bestehende Klassen in den Kampf zu führen, müssen zunächst einmal Gemeinschaften und Allianzen geschaffen werden. Statt Arbeit und Kapital als Hauptwiderspruch zu sehen, aus dem alle anderen Diskriminierungen (Sexismus, Rassismus …) als Nebenwidersprüche folgen, die sich mit dem Ende der Klassendialektik automatisch auflösen, gilt es zusehends einen Kampf an mehreren Fronten zu führen, zu denen auch ganz grundlegend linke Selbstkritik zählt. Dadurch geriet die Partei als Institution zunehmend unter Beschuss. Einerseits reproduzierte sie in sich selbst in weiten Teilen die weiß-männlich-akademische Dominanz die am System kritisiert wird. Andererseits fehlte ihr oft die konzeptuelle und organisationale Dynamik um mehr als nur die Avant-Garde einer bestimmten sozio-ökonomischen Gruppe zu sein, was oft zu Klientelismus (die Bevorzugung einer Gruppe vor einer anderen) und Entrismus oder konter-revolutionärer Klüngelei führte (Old-Boys-Klubs in denen Gewerkschaften und Parteien sich mit selbst-identifizierten linken Regierungen über die Köpfe der Betroffenen hinweg verständigten).

 

Die sich als Alternative zu den verknöcherten Partien formierenden sozialen Bewegungen verstärkten sich nach der Jahrtausendwende durch die Verbreitung des Internets, welche ihnen erlaubte einen fehlenden Apparat (lokale Büros, Parteizeitungen, usw.) durch digitale Strukturen zu ersetzen. Eine Welle populärer Ereignisse belebte spontanistische Ideen von Revolution und Wandel: Occupy, der arabische Frühling, Maidan, Gezi Park, 15-M, Nuit debout … Hier wurde die Konvergenz der Aufstände wörtlich: statt durch Parteistrukturen gestaltet zu werden, versammelten sich Menschen mit unterschiedlichen Anliegen an konkreten Orten um trotz bisweilen unvereinbarer Agenden gegen den gemeinsamen Gegner aktiv zu werden.

 

Die Rückkehr der Partei

 

Dieser Höhepunkt markierte jedoch zugleich eine radikale Wende im spontanistischen Allianzdenken. Zwei Lektionen von Bewegungen wie Occupy waren, dass diese ohne eigene Strukturen entweder von anderen vereinnahmt werden oder sich nach der anfänglichen Euphorie und dem Ende der räumlichen Konvergenz wieder auflösen. Deswegen wurde bereits während 15-M und Nuit Debout versucht Möglichkeiten der Kontinuität zu denken und zu schaffen. Und so die Partei und der Kommunismus neu entdeckt. Parteien wie Podemos entstanden, Frédéric Lordon schrieb vom Imperium, Autorinnen wie Jodi Dean veröffentlichten grundlegende Texte zur Notwendigkeit gerade einer kommunistischen Partei. Doch die vorgeschlagenen Parteienmodele waren alles andere als einheitlich.

 

Auf der einen Seite entstanden verstärkt Plattformparteien (Podemos, Piraten, La France Insoumise, M5S …), die sich oft selbst nicht als Partei, sondern als Bewegung präsentieren und traditionelle Parteistrukturen und -dynamiken zu vermeiden versuchen. Niemand muss zu langweiligen Kreisgruppensitzungen, niemand muss Satzungsordnungen debattieren, es reicht bei Einzelaktionen und vor allem beim Wahlkampf und auf den sozialen Medien dabei zu sein. Weniger Disziplin, weniger Unterordnung der eigenen Individualität unter ein Parteiprogram, mehr Spontaneität und activism-on-demand. Aber dass sich nur wenige in den Strukturen engagieren führt nachweislich auch zu weniger interner Demokratie: weniger Mitsprache, weniger Kontrolle, weniger Einfluss, weniger selbstkritische Debatte … und mehr Populismus und charismatische Parteiführer.innen.

 

Auf der anderen Seite entstanden Bewegungsparteien, die sich in sozialen Bewegungen verankern, zugleich aber auch traditionelle Parteistrukturen (z.B. Orts- und Arbeitsgruppen) erhielten oder aufbauten. Diese Parteien vermeiden den Klientelismus des 20ten Jahrhunderts und definieren sich nicht mehr als Repräsentanten nur einer einzigen Klasse, sondern als pluralistische Sammlungsbewegungen. Trotz dieser Arbeit in und mit Allianzen, sehen sie soziale Kämpfe aber nicht als konvergierendes Nebeneinander, sondern als ein gemeinschaftsbildendes und -stärkendes Engagement, und damit eben jene gelebte Solidarität und Kameradschaft die linke Parteien für die Gesellschaft als Ganzes anstreben.

 

Seid Kameraden!

 

In Zeiten einer weltweiten Pandemie und des social distancing muss diese rezente Veränderung von Form und Notwendigkeit der Partei, sowie des programmatischen Aufrufs Kameraden statt nur Alliierte oder Sympathisant.innen zu sein hervorgehoben werden. Wir erfahren unsere Kameradschaft gerade auch durch unsere geteilte Verletzbarkeit angesichts der kapitalistischen Zerstörung der seit den Weltkriegen durch den Kampf für den Sozialismus geschaffenen Schutzinstitutionen (wie z.B. dem allgemeinen Gesundheitswesen). Wie Kameraden immer schon verlangten mehr als nur Kanonenfutter und Konsumenten zu sein, müssen wir jetzt aktiv bleiben um auch mehr als nur Patienten zu sein, denen der Staat Atomisierung und Digitalisierung als Medizin verschreibt. Wie nur selten zuvor, ist es heute notwendig pluralistische und physische Gemeinschaft zu sichern und zu ermöglichen. Wie nur selten zuvor, sind heute die Partei als Form, der Sozialismus als Programm und Kameradschaft als Lebensweise notwendig. Damit die Öffentlichkeit die Sperrung des öffentlichen Raums überlebt, statt in kleine und kleinste identitäre Interessengrüppchen zu zerfallen. Damit die spontane Solidarität der Krisenzeiten sich in politische Veränderung und sozialen Wandel übersetzt. Die sozialistische Partei hat schon vor der Corona-Krise auf Grundlage unserer gemeinsamen Menschlichkeit argumentiert und agitiert. Während und nach der Krise muss sie diese Gemeinschaft weiter aktiv schaffen, unterstützen und mobilisieren. Und dafür braucht es Kameraden.

 

Sebastian Weier 25/03/2020