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Linke Politik in einer nichtrevolutionären Situation

 

 

 

Die Einsicht, dass wir uns gegenwärtig in Luxemburg und Europa weder in einer revolutionären noch in einer vorrevolutionären Situation befinden, dürfte auf allgemeine Zustimmung stoßen. Eine Revolution ist nicht in Sicht, abgesehen von einer innerkapitalistischen Revolution in Form von dynamischen technologischen Innovationen und Organisierung einer breiten gesellschaftlichen Zustimmung zur Vorherrschaft des Kapitals bis weit in die subalternen Klassen und Schichten hinein. Für eine solche Konstellation hat Antonio Gramsci den Begriff der « passiven Revolution » geprägt.
Auch wenn die linke Partei déi Lénk bei den Wahlen vom letzten 20. Oktober ihre Vertretung im Luxemburger Parlament erfreulicherweise von einem auf zwei Abgeordnete ausbauen konnte, wurden zu über 90% bürgerliche Parteien gewählt respektiv solche, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt das kapitalistische System nicht in Frage stellen. Die zwei antikapitalistischen Parteien déi Lénk und KPL erhielten zusammen nur etwa 6,6% der Wählerstimmen. Dieses Resultat verdeutlicht anschaulich die große Integrationsfähigkeit der herrschenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung.
Mit der neuen Mitte-links-Koalition, die jetzt antritt Luxemburg zu regieren, dürfte der heimische Kapitalismus seine Innovationsfähigkeit wieder einmal unter Beweis stellen. Fortschrittliche gesellschaftliche Reformen und eine Modernisierung der Institutionen des Luxemburger Staates sind zu erwarten. Gleichzeitig aber besteht das Risiko einer weiteren Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit zugunsten Ersterem und einer weiteren Umverteilung des produzierten Reichtums von unten nach oben.
Eine realistische Einschätzung des Kapitalismus
Modernisierungsschübe hat es in der Geschichte des Kapitalismus immer wieder gegeben. Nach der Sequenz der bürgerlich-demokratischen Revolutionen von 1848/1849 und nach der großen Wirtschaftskrise von 1857 folgte eine Epoche, in der der Kapitalismus sich stabil und dynamisch zum Imperialismus weiterentwickelte. Im Jahr 1859 stellte Karl Marx in seiner Schrift « Zur Kritik der politischen Ökonomie » fest: « Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind. »*
In der Vergangenheit haben Arbeiterparteien des Öfteren dieser Erkenntnis von Karl Marx nicht genügend Rechnung getragen. Im Geflecht der mannigfaltigen Ursachen dürfte hier eine angesiedelt sein, die eine Erklärung liefert sowohl für das Scheitern bisheriger Versuche über den Kapitalismus hinaus in eine sozialistische Zukunft zu gelangen, wie auch für die immer wieder in der Arbeiterbewegung entstehenden Illusionen den Himmel kurzfristig erstürmen zu können.
Schon Marx und Engels mussten sich in der Internationalen Arbeiterassoziation fortwährend mit Mitstreitern auseinandersetzen, die in einer nichtrevolutionären Situation eine Revolution durchführen wollten. Revolutionäre Ungeduld hat die Arbeiterbewegung seit Beginn begleitet. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird dem in Zukunft auch so sein!
Wann in Europa eine Epoche revolutionärer Umbrüche eintreten wird, kann man nicht voraussagen. Dass dies stattfinden wird, davon muss man allerdings ausgehen! Die in immer kürzeren Zeitabständen auftretenden Krisen des Kapitalismus deuten in diese Richtung. Jedoch müssen die Menschen, die heute lebenden sowie die zukünftigen Generationen lernen, dass die kleinste Messeinheit der Geschichte der Gesellschaftsformationen mindestens ein ganzes Jahrzehnt umfasst. Dieser Lernprozess ermöglicht es die gesellschaftlichen Entwicklungen, die im Leben eines Menschen stattfinden können, richtig einzuschätzen.
Linke Politik in der Gegenwart
Solche realistischen Einschätzungen stehen nicht im Widerspruch zu den großen Gestaltungsmöglichkeiten, die sich im Hier und Heute für linke Politik eröffnen! Kurzfristig stellt sich den europäischen radikal-linken Parteien die Aufgabe, den in harten sozialen Auseinandersetzungen erreichten Kompromiss zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse gegen alle neoliberalen Angriffe erfolgreich zu verteidigen und auszubauen. Das allein ist schon, gemessen an einem Menschenleben, eine riesige Aufgabe!
Viele « Schützengräben » – Antonio Gramsci sprach vom « Stellungskrieg » in Bezug auf die Form des Klassenkampfes im modernen Kapitalismus mit seiner entwickelten Zivilgesellschaft – sind zu verteidigen, respektiv einzunehmen. Um einige zu nennen: Sicherung des Friedens gegen jeden imperialistischen Krieg; Bewahrung der natürlichen Umwelt gegen das ungezügelte Profitstreben; Verteidigung und Weiterentwicklung des demokratischen Rechtsstaates in Richtung einer immer größeren Integration der subalternen Klassen und Schichten sowie aller gesellschaftlichen Minderheiten; Verteidigung und Ausbau des Sozialstaates durch eine offensive Umverteilungspolitik von oben nach unten; Erkämpfung neuer demokratischer Rechte für die Belegschaften in den Betrieben; absolute Gleichstellung der Frauen gegen alle Überbleibsel patriarchaler Gesellschafts- und Denkstrukturen; kompromisslose ideologische und kulturelle Auseinandersetzung mit fremdenfeindlichen und rassistischen Denkmustern, gegen die auch die subalternen Klassen und Schichten nicht immun sind; Ablehnung des europäischen Vertragswerkes in seiner heutigen Form und Neugründung der Europäischen Union als Antwort auf die Instrumentalisierung des europäischen Einigungsprozesses durch die herrschenden bürgerlichen Eliten zur Durchsetzung einer marktradikalen, auf Profitmaximierung und Renditesteigerung ausgerichteten Politik.
Und dann bliebe noch eine fundamental wichtige Aufgabe: das aufklärerische Wirken in der Gesellschaft zur Steigerung des politischen Bewusstseins der modernen Arbeiterklasse in Vorbereitung eines nächsten Anlaufs zur Überwindung des Kapitalismus und Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft, in der – soweit voraussehbar – die Prädominanz vielfältiger Formen von kollektivem Eigentum an den Produktionsmitteln, ökologische Planung und dezentralisierte politische Entscheidungen ineinandergreifen werden. Je schneller dieses aufklärerische Wirken Früchte tragen wird, desto erfolgreicher kann ein Abgleiten der menschlichen Zivilisation in moderne Formen der Barbarei verhindert werden!

* Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), Vorwort, in: MEW 13, S. 9