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Synthetisch-spontan / Organisch-strukturell. Strategische Anmerkungen zum Sozialismus im 21 Jahrhundert.

Spontaneität und Struktur, zwischen diesen beiden Polen spannen sich seit jeher strategische und ideologischen Bemühungen sozialistischer Bewegungen. Kommt es zu spontanen Aufständen und letztlich zur Revolution wenn die Gegensätze der kapitalistischen Verhältnisse zu erdrückend werden? Oder kann nur eine akribisch vorbereitende Avant-Garde einen Wandel herbeiführen? Reicht was vom Comité Invisible als „Destitution“ gedacht wird, also eine Abschaffung gegenwärtiger Formen von Unterdrückung und Ausbeutung um spontan eine bessere Gesellschaft entstehen zu lassen? Oder muss die Diktatur der Arbeiterklasse erst noch die Bedingungen für den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus in 100 Jahren schaffen? Und was sind die besten Mittel für die eine oder andere Strategie?

 

Spontanität und Sozialismus: historische Wegmarken

 

Lenin hatte 1902 in „Was tun?“ argumentiert:

 

… daß jede Anbetung der Spontaneität der Arbeiterbewegung, jede Herabminderung der Rolle des „bewussten Elements“, der Rolle der Sozialdemokratie, zugleich – ganz unabhängig davon, ob derjenige, der diese Rolle herabmindert, das wünscht oder nicht – die Stärkung des Einflusses der bürgerlichen Ideologie auf die Arbeiter bedeutet.

 

Das hinderte Rosa Luxemburg nicht daran den spontanen Generalstreik, durch den sich die Arbeiterklasse fast ohne Partei und Apparat selbst befreien würden, als den Königsweg zum Sozialismus zu theoretisieren. Mit der Tatsache, dass die Oktoberrevolution dann in Folge einer langen Vorarbeit in Russland ausbrach, und nicht in England oder Deutschland wo die materiellen Gegensätze eigentlich nur auf den Funken der Spontaneität warteten um lichterloh in Flammen aufzugehen, schien die Geschichte eher Lenin als Luxemburg Recht zu geben. Struktur und Disziplin bestimmten daraufhin lange Zeit Form und Vorgehen sozialistischer Bewegungen, allen voran der Kommunistischen Parteien. Aber die „Stärkung der bürgerlichen Ideologie auf die Arbeiter“ setzte sich gerade auch außerhalb der Sowjet Union munter fort bis es in den 1960er Jahren zu einem Bruch zwischen einer „neuen“ und „alten“ Linken kam, der sich zwar nicht nur, aber in weiten Teilen in Form einer Fetischisierung einer radikalen Spontaneität artikulierte. Spontis, Situationisten, Provos … im langen 1968 (von den Beatniks zum Deutschen Herbst) wurde jede Begrenzung der Lust am Ich als autoritär bis hin zu links-faschistisch verschrien und die Befreiung der Welt durch die orgiastische Lust am Selbst gepredigt: von der durchaus dringenden sexuellen Befreiung und den Culture Wars, über esoterische Verklärungen von Kundalini, Urschrei, Gurus und Ashrams, hin zum Todestrieb einiger Linksterroristen die mehr aus persönlicher Wut gegen das System als von Hoffnung für das Volk getrieben wurden. Wer in der Folge nicht zur RAF oder den Brigate Rosse ging oder nach einer Jugend als Maoist wie Paul Breitner beim FC Bayern landete oder zum Nouveau Philosophe und Sarkozy-Vordenker wurde, machte ein Vermögen in Silicon Valley oder setze als Post-Materialist.in seinen Krieg für das Spontane gegen die Übermutter Thatcher fort. Aus Kommune 1 wurde ein bisschen Birkenstock und viel von Nikes Just Do It : Spontaneität als Schnittstelle zwischen wahrem Ich und Welt wurde zur Leitkultur sowohl des neoliberalen Kapitalismus, wie auch vieler sich selbst als „alternativ“ verstehender Lifestyles.

 

Der Sozialismus ist kein alternativer Lifestyle

 

Der Sozialismus, und noch weniger der Kommunismus, sind keine alternativen Lifestyles. Genau das wurde und wird ihnen auch lange vorgeworfen: eine Umverteilung der Besitzverhältnisse allein ändere nichts an deren Existenz und deren Folgen, und zudem sei eine unmittelbare Veränderung der sozialen Verhältnisse durch eine Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse zweifelhaft. Auch der Sozialismus sei produktivistisch und stelle viele individuelle oder identitätsbezogene Problematiken als Nebenwidersprüche hintenan. Auch der Sozialismus setzte das Bruttosozialprodukt vor den Naturschutz. Auch im Sozialismus, gerade dem real existierenden, würden individuelle Freiheiten begrenzt, wenn auch im Namen des Kollektivs statt des Kapitals.

 

Sicher waren und sind viele dieser Kritikpunkte lange und oft zutreffend, und viele Bewegungen und Parteien des Sozialismus im 21ten Jahrhundert sind nicht zuletzt deswegen aus Abspaltungen von den alten Kommunistischen Parteien entstanden. Trotzdem sind auch ihre Programme keine reinen Visionen alternativer Lebensweisen. Im Gegensatz etwa zum Selbstverständnis der Grünen Bewegungen kann im Sozialismus nicht sinnhaft argumentiert werden, der kritische Konsument allein könne eine gerechte Gesellschaft gestalten. Auch der Sozialismus des 21ten Jahrhunderts muss auf einer strukturellen Analyse der Wirtschafts- und Besitzverhältnisse gründen, sonst ist er kein Sozialismus. Und er muss mit dieser strukturellen Analyse auch eine strukturelle, keine spontanistische Lösung verfolgen und dementsprechende Mittel und Methoden anwenden.

 

Soziale Medien: Spontaneität als bürgerliche Verschleierung von Machtstrukturen

 

Unter den Bedingungen des Plattform-Kapitalismus und seiner Ideologie, die sich gerade in der aktuellen Phase der verschärften sozialen Atomisierung qua Pandemie-Schock-Strategie verhärten, stellt es eine besondere Herausforderung an den Sozialismus dar, sich nicht im Schein der Sozialen Medien zu verlieren. Wie die Geschichte gezeigt hat, und wie gerade in den letzten Jahren viele Autor.innen wie etwa Jodi Dean immer wieder unterstreichen, bedurften sozialistische Projekte aller Größenordnungen immer einer Struktur die es überhaupt erst möglich machte spontan sich ergebende Gelegenheiten beim Schopf zu fassen. Dabei reichte der Begriff der Struktur von einfacher Informations- und Bildungsarbeit (also immateriellen Strukturen) zu Vereinen, Gewerkschaften, Parteien und anderen Formen mehr oder weniger institutionalisierte Affinitätsgruppen. Seit der Jahrtausendwende werden diese beiden Pole jedoch immer mehr von sozialen Medien überlagert, welche zugleich Bildungs- und Informationsinstrument sein wollen und Ort und Struktur für Versammlungen, in denen sozusagen Chat-Groups Parteien überflüssig machen. Dabei erscheinen die sozialen Medien selbst oft als immaterielles Gemeingut, obwohl sie durch extrem kostenintensive materielle Strukturen generiert werden und harte Teilnahmeregeln durchsetzen, welche allein von ihren Besitzern und nicht von den Nutzer.innen gemacht werden, die wiederum jederzeit gesperrt und gelöscht werden können.

 

So entsteht die Wahrnehmung eines spontanen Sozialismus, oder zumindest spontaner Revolten welche sich vom arabischen Frühling, über diverse Besetzungsbewegungen (Occupy, Indignados, Nuit Debout, Hong Kong …) quasi aus dem Nichts im Akt der Revolte selbstorganisieren. Dass sie dabei strikt innerhalb der Möglichkeiten ihrer jeweiligen Plattformen bleiben, bzw. sich für ihre „spontane“ Organisation auf die Möglichkeiten der Plattformen und die bereits von diesen geleistete Vorarbeit stützen, wird vergessen. Dies begünstigt eine Nutzererfahrung, die suggeriert, Politik könne viel spontaner angegangen werden als es innerhalb der veraltenden Parteien mit ihren Strukturen und Verpflichtungen geschieht. Dieser Spontansozialismus besteht heutzutage in der Regel nicht mehr aus kontinuierlichen Basisgruppen, oder Bewegungen, sondern einer losen Sammlung an nicht immer miteinander kohärenten Ideen und Engagements, an Gruppen denen man auf den sozialen Medien folgt, , an einzelnen Veranstaltungen an denen man hin und wieder teilnimmt, generell aber eher auf Youtube verfolgt, an Chat-Gruppen und Lifestyle-Entscheidungen.

 

Problematisch wäre das an und für sich nicht, allerdings steht dieser selektive Spontansozialismus nicht auf dem Wahlzettel. Er hat keine Adresse oder Lokal in dem man sich mit anderen Spontansozialisten austauschen, verbünden und verschwören könnte. Er hat, sofern er nicht von Plattform-Bewegungen organisiert wird, meist kein eigenes Logo, aber es gibt alternative Merchandise die dafür herhält, etwa Superheldenmasken oder Silkscreen bedruckte Beutel aus Tensil. Damit bleibt er zwar in sich geschlossen, denn wer die Gruppen nicht sucht und die Zeichen nicht lesen kann bleibt außen vor, aber wer eben nicht modern genug ist, ist eh nicht willkommen. Zur Volksbewegung taugt der Spontansozialismus also nicht. Weil er eben nicht auf dem Wahlzettel steht, motiviert er aber eh nicht unbedingt zum Parlamentarismus, der ja zu sehr strukturiert, zu wenig spontan ist. Viel besser ist doch der Spontansozialismus auf Raves, oder wenn dann nur mit ganz niedrigschwelligen Strukturen, etwa beim kooperative Bioladen an der Ecke.

 

Zur Zeit müsste es eigentlich leicht sein darauf hinzuweisen, dass Spontaneität historisch dem Faschismus zuzuordnen ist, dem Individuum mit seinem „Willen zur Macht“, seiner toxischen-stupiden Virilität und seinen alternativen Fakten die sich die Welt machen wie sie ihnen gefällt. Denn: Duterte, Bolsonaro, Trump: charismatische Populisten just do it. Aber: Amazon, Apple, Facebook, Instagram … Clicktivism, Mass Open Online Courses, E-Demo …das Spontane, das Unmittelbare …wieso Sein schaffen wenn es Schein so viel schneller, einfacher und umsonst auf den Bildschirm gibt ohne dass man sich dafür die Hände schmutzig machen muss?

 

In unserer spontanen Gesellschaft hat der Spontansozialismus dem Straßensozialismus schon lange den Rang abgelaufen. Deswegen veralten viele sozialistische Gruppen demographisch, während spontan-charismatisch orientierte Gruppierungen mit mehr oder minder Persönlichkeitskult und niedrigschwelligen Strukturen neue Wählerschaften gewinnen (La France Insoumise, diem25, Podemos, M5S, Piraten … ). Diese Bewegungen verbinden oft sehr lose und spontane Ortsgruppen mit sehr undemokratischen und führungsbezogenen überregionalen Strukturen. Viele von ihnen funktionieren über Plattformen oder gar Apps auf denen Ein- und Austritt oft nicht viel mehr sind als Ein- und Ausloggen. Man sucht sich die Themen aus zu denen man aktiv werden viel, man personalisiert sich das Politikerlebnis, ganz ohne Disziplin für langweilige Sitzungen oder Soli-Aktionen zu Themen die einen nicht so interessieren.

 

Ein Gedankenexperiment zur Bebilderung: Statt einer KP die immer 10 Mann zu jeder Demo schickt und so die Kräfte bündelt, machen 2 Mann ein Gruppe in den Sozialen Medien auf um jeweils noch 8 verschiedene Sympathisantinnen zu ihren jeweiligen Interessen zu mobilisieren. Wenn das klappt, hat man dann jeweils 10 Leute am Start, aber eine breitere Basis (16 Leute statt 10) die mit weniger Bewegungsinvestment (2 Verantwortliche statt 10 Mitglieder) eventuell sogar mehr Motivation auf die Straße bringt. Wenn bei der KP der Strukturaufwand 10 und das spontane irgendwo bei 0 wäre, wäre dann im zweiten Fall der Strukturaufwand bei 2 und das spontane bei 16 zu bemessen. Der moderne Kapitalismus würde das als Ressourceneffizient, mobil und dynamisch loben, gerade auch weil die verwendete Infrastrukturen (Soziale Medien) die Bewegung quasi nichts kosten. Lenins Warnung der „Stärkung der bürgerlichen Ideologie auf die Arbeiter“ hallt hier deutlich nach.

 

Spontaneität in die öffentliche Hand: Sozialismus im 21ten Jahrhundert

 

Die Nutzungserfahrung der Spontansozialisten sind also generell niedrigschwellig, nicht verpflichtend und eben spontan und gerade deswegen attraktiv und populär. Aber nur weil einerseits gerne ignoriert wird, wie viel Gestaltungsmacht nun auf nur 2 statt 10 Personen konzentriert wird, und weil andererseits, wie schon erwähnt, die Tatsache verschleiert wird, dass diese Form der Spontanität auf harten Strukturen (etwa den genutzten Plattformen) beruht, die vorab bestimmen was auf ihnen möglich ist und wer dabei sein darf.

 

Betrachtet man diese Strukturen aber trotz aller Kritik als Instrument für den Sozialismus im 21tenJahrhundert – und angesichts ihrer ungeheuren wirtschaftlichen und sozialen Macht kann man sie nicht einfach fortwünschen – so gilt es demnach 2 Dinge zu tun:

 

  • Aufzeigen, dass Spontaneität hier nur Schein ist, dass sie stark strukturiert und kontrolliert ist und was dies für ein sozialistisches Projekt bedeutet
  • Sich diese Strukturen durch Übernahme durch die Öffentlichkeit aneignen oder, angesichts ihrer gefährlichen Wirkungsmacht, abschaffen und durch alternative, offene und transparente Strukturen ersetzen

 

Um es klar zu sagen: diese Argumentation basiert auf der Annahme, dass ein Sozialismus im 21tenJahrhundert nicht allein außerhalb der modernen Kommunikationsstrukturen entstehen kann. Aber: noch weniger kann er ausschließlich innerhalb dieser Strukturen entstehen. Damit das Sein sich den Schein unterwerfen kann, damit die Gesellschaft sich vom Kapitalismus befreien kann, muss diese den Kapitalismus militärisch und ideologisch entwaffnen, was heute unbedingt die modernen Medien begreift, die über den Informationsgehalt einer Wandzeitung hinaus, zu alternativen Organisationsformen geworden sind.

 

Um dies zu erreichen, muss der Sozialismus in der Welt agieren und sich dort die Strukturen geben um gegen das Opium der Spontaneität vorgehen zu können. Funktionierende Gemeinschaftsgruppen, vom Kneipenkollektiv und Soli-Partys, über Gartengemeinschaften, Sozialistische Sportvereine, Nachbarschaftsgruppen, Koordinations-Plena mit anderen Bewegungen, Arbeitenden-Zentren &-Zellen und derlei mehr müssen die Grundlage des Sozialismus im 21ten Jahrhundert sein, nicht Sozial-Medien-Gruppen und Super-Star-Polittreibende oder Akademiker.innen die auf Parteitagen die Parteikartentragende und das Stimmvieh anziehen sollen wie Musiker auf Festivals die Eingangskartentragenden! Aus diesen Gemeinschaftsgruppen entstehen und bestehen die tatsächlichen sozialen Netzwerke, nicht aus über Propaganda gemästeten Followerzahlen auf den Sozialen Medien!

 

Die Partei darf nur ein Teil der Bewegung sein

 

In diesem Sinne braucht eine sozialistische Bewegung keine Follower, sondern Kameraden. Diese Kameraden geben sich Strukturen verschiedenster Form, von denen die Partei eine von vielen möglichen ist. Insofern eine Partei sich durch das Ziel politischer Macht definiert, darf sie aber nur ein Teil des sozialistischen Projektes sein. Eine Partei kann andere Strukturen, wie die beispielhaft erwähnten Gruppen und Kollektive, gründen oder stärken. Sie kann eine Hauptstruktur sein, die andere Strukturen ermöglicht. Aber im Gegensatz zu allen anderen sozialistischen Strukturen muss sie sich fragen, ob sie nur jene vertreten will, die in ihr Handeln, oder ob sie darüber hinaus Spontansozialisten und Follower sammeln will, von denen allein die Wahlstimme reicht. Sie muss sich fragen, in wie fern sie organisch-strukturell sein möchte und in wie fern sie synthetisch-spontan sein möchte. Die Stärke der mythischen alten Arbeiterpartei war, dass sie organisch stark genug war um Volkspartei zu sein. Ganz nach der Kernhypothese des dialektischen Materialismus – wenn eine große Menge der Gesellschaft ihre Ausbeutung nicht mehr aushalten kann, erhebt sie sich und führt eine qualitative Veränderung der Umstände herbei – brauchte die alte organisch-strukturelle Partei nicht Kameraden zu werben oder gar zu schaffen, sondern entstand aus deren zahlenmäßig ausreichend starker Masse heraus. Neue Plattform-Parteien wie M5S, PODEMOS, La France Insoumise oder die Piratenparteien, aber auch viele Liberale Parteien wie die FDP, die britischen Liberalen oder die US-amerikanischen Parteien, verzichten hingegen ganz auf einen organischen Anspruch und verfolgen fast ausschließlich eine synthetisch-spontanistische Strategie, deren Ziel letztlich immer eine Eliten-Herrschaft von Multiplikatoren und Influencern über Massen von Individuen ist, die sie begeistern oder zumindest amüsieren, zu denen sie sich aber nicht über ein Politanbieter-Konsument-Verhältnis hinaus verbunden oder verpflichtet fühlen.

 

Mittel zur Mitte oder organischer Sozialismus?

 

Der Sozialismus ist per Definition organisch. Er entsteht aus dem Volk für das Volk. Er bezeichnet Strukturen die entstehen wo Massen sich zu Gemeinschaften formen. Er verfolgt eine strukturelle Analyse und Methodik, in der er transparent ist über sein eigenes Wesen, aber vor allem auch immer wieder die Schichten der vermeintlichen Spontaneität des Kapitalismus abkratzt um unter dem ganzen Spektakel die Strukturen der Macht- und Besitzverhältnisse sichtbar und verständlich zu machen. Spontaneität ist seit längerem das politische Mittel zur Mitte: ansprechende Graphiken, inszenierte Parteitage und Soziale-Medien-Kampagnen, Infostände mit Kugelschreibern, Luftballons, Augmented Reality und Karaoke sind probate Mittel für Akteure des gesamten politischen Spektrums. Im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft sind sie eine meisterhafte Handhabung des bürgerlichen Bewusstseins um bürgerlichen Erfolg zu erreichen.

 

In wie fern darf der Weg der Partei über die Wahlurnen eine Nutzung des Mittels zur Mitte rechtfertigen? Inwiefern kann dieses Mittel vom Stadtteilkollektiv genutzt werden ohne als Selbstzweck den organische Kern des Kollektivs zu ersticken? Was ist das richtige Gleichgewicht zwischen Spontaneität als Ideologie (Verschleierung von Machtstrukturen) und Spontaneität als Methode (Facebook-Feier um Mitglieder für Jugendorganisationen zu gewinnen),  zwischen Struktur als Ideologie (die Veränderung des materiellen Unterbaus führt automatisch zur Veränderung des Überbaus und also des Bewusstseins) und Struktur als Methode (Gründung von Basisgruppen und Aufbau des Sozialismus von Unten nach Oben)?

 

Mitunter wird argumentiert, synthetisch-spontanistische politische Gruppen wären auch deswegen so erfolgreich, weil sie Gemeinschaften schüfen (synthetisierten) wo organische Gruppen wie etwa die Arbeiterklasse nicht mehr existieren, bzw. wo bestehende organische Gruppen wie etwa Anti-Rassismus- oder Frauenbewegungen allein nicht reichten um ausreichend Masse zum politischen Erfolg zu mobilisieren. Dem zugrunde liegt jedoch ein falsches Verständnis des Organischen: wenn etwa zeitgenössische Arbeitsbedingungen kollektive Organisation am Arbeitsplatz erschweren, so kann beispielsweise eine Struktur wie ein Worker Center helfen, in dem sich Arbeitende aus unterschiedlichen Betrieben langfristig zusammentun, ohne dass gleich eine allein digitale Plattform allein einzelne Menschen zu allein einzelnen Ereignissen einlädt, als wenn es heute keine anderen Gemeinsamkeiten mehr gäbe als die Nutzung dieser oder jener Plattform.

 

Aufgabe sozialistischer Organisation muss es also sein, das Organisch-Strukturelle in der Gesellschaft zu stärken, vor allem auch vor Ort und gegenüber dem Synthetisch-Spontanen und seinem Mythos von der allgemeinen Revolution die aus dem Individuellen entstünde. Dabei darf dieses als Mittel aber nicht ganz ausgeschlossen werden. Ein organisch starkes Kollektiv kann sehr wohl ein synthetisches-spontanes Instrument nutzen ohne sich mit diesem zu identifizieren oder gleich von ihm zerstört zu werden (ein stetes Risiko: die Verlagerung des Organischen ins Synthetische bis hin zur Selbstauflösung: Kündigung der Büros, Ende der persönlichen Begegnungen und Unternehmungen …). Menschen, die bislang infolge der fortdauernden „Stärkung der bürgerlichen Ideologie auf die Arbeiter“ noch nicht zu organischen Strukturen gefunden haben, können über synthetisch-spontane Wege erreicht und an andere Möglichkeiten herangeführt werden. Aber diese anderen Möglichkeiten dürfen eben nicht selbst synthetisch-spontanistisch sein. Gesellschaft muss organisch wachsen, gefördert durch den Sozialismus als gemeinschaftlicher Struktur, statt als spontanem Ereignis oder nettem, kleinem Pläsir der oder des sich selbst-verwirklichenden Einzelnen.

 

Duxiu Jiayin 27/08/20